Bei Vorwürfen von sexualisierter Gewalt steht vor Gericht oft Aussage gegen Aussage. Kann ein Lügendetektor helfen?
Elektroden sollen die Signale des Körpers messen: Ein Lügendetektor in einer historischen Aufnahme Foto: Bettmann Archive/getty images
Polygrafen oder Lügendetektoren kennt man vor allem aus Filmen. Die Polizei in den USA setzt sie ein, und auch amerikanische Firmen bei Bewerbungsgesprächen. Sie geben ein verlockendes Versprechen: dass man mit ihrer Hilfe Verbrecher überführen kann, Angeklagte belasten – oder entlasten. Teske hat ihren jahrelangen Kampf für ihr Kind in einem farbigen Leitz-Ordner festgehalten. Darin hat sie Hunderte Seiten Dokumente abgeheftet: Briefe vom Gericht, Gutachten von Psycholog*innen, ärztliche Befunde – und das Ergebnis ihrer polygrafischen Untersuchung.
Seit Monaten hegte sie damals den Verdacht, ihr Ehemann, von dem sie getrennt lebte, würde das gemeinsame Kind missbrauchen. Ihr Kind hatte Handlungen des Vaters beschrieben, die Sabine Teske als Grenzüberschreitung interpretierte. Ihr Kind, das zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein war, habe nicht zum Vater gehen wollen. Es habe geschrien, sei aggressiv geworden, wenn ein Besuch beim Vater angestanden hätte. So erinnert sich Sabine Teske.
Wenn Gerichte einen Polygrafentest anfordern, reist meist Gisela Klein an. Sie ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie und Sachverständige in Straf- und Familiensachen. In Amerika hat sie sich im Jahr 1996 für die Arbeit mit dem Polygrafen zertifizieren lassen, sie ist Mitglied der American Polygraph Association, dem amerikanischen Berufsverband der Polygrafen-Gutachter*innen.
Während der Untersuchung ist Gisela Klein allein mit den Befragten. Sie erzählt davon am Telefon: Das „A und O“ sei es, in einer störungsfreien Situation eine ruhige und sachliche Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Nur so ließen sich die unwillkürlichen körperlichen Reaktionen, die eine Person auf die Testfragen zeigt und die dann vom Polygrafen aufgezeichnet werden, eindeutig interpretieren.
Es gibt zwei Verfahren für Polygrafentests – den Tatwissens- und den Vergleichsfragentest. Der Tatwissenstest behandelt konkrete Fragen zu einer Tat: War die Jacke des Opfers rot? War sie blau? Die Annahme ist, dass ein Täter bei der korrekten Antwort körperlich stärker reagiert, während der zu Unrecht Beschuldigte auf alle Antworten gleichbleibend reagiert.
Mit dem eigentlichen Missbrauchsvorwurf haben sich im Test von Sabine Teske und ihrem Ex-Ehemann drei Fragen beschäftigt. Sie gleichen den Fragen aus anderen Verfahren, die die taz einsehen konnte. Und auch das Ergebnis des Tests von Sabine Teske und ihrem Ex-Mann ging so aus wie vergleichbare Verfahren.
Für Familienrechtler*innen sind Missbrauchs- und Gewaltvorwürfe immer verheerend. Weil sie oft schwer zu beweisen sind. Und weil es Vorwürfe sind, mit denen man dem Partner am meisten schadet. Maier stört es, dass viele seiner Richterkolleg*innen den aussagepsychologischen Gutachten so viel Bedeutung zumessen. Darin bewertet ein Gutachter, ob die Aussage, die beispielsweise ein Kind bei der Polizei gemacht hat, glaubhaft ist. „Der Erfolg dieser Methode hängt stark vom Ausgangsmaterial ab“, sagt Maier.
Der BGH kam schließlich zu seinem klaren Ergebnis: „völlig ungeeignet“. Das Gericht begründete das vor allem mit medizinischen und psychologischen Forschungsergebnissen. Es sei demnach nicht möglich, eindeutige Zusammenhänge zwischen emotionalen Zuständen eines Menschen und spezifischen Reaktionsmustern im Nervensystem zu erkennen.
Der BGH hat sein Urteil von 1998 in den folgenden Jahren immer wieder bestätigt, das Bundesverwaltungsgericht hat es auch für Disziplinarverfahren bekräftigt. Andre Maier ist seit 25 Jahren Familienrichter. Er hat Fortbildungen zur Entwicklungspsychologie von Kindern besucht, hat an der Universität Ulm einen Onlinekurs zum Thema absolviert. Er kann aus dem Stand Missbrauchsprozesse von anderen deutschen Gerichten nennen, bei denen Angeklagte zu Unrecht verurteilt wurden.
Der deutsche Jurist Johannes Makepeace hat im vergangenen Jahr die Studienlage zum Polygrafen ausgewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass die Ergebnisse vieler Studien trotz methodischer Unterschiede weitgehend übereinstimmen: Schuldige ließen sich mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit entlarven, allerdings gebe es eine Neigung, Aussagen Unschuldiger schneller als wahrheitswidrig zu deklarieren.
Sie beschließt, sich Hilfe von Therapeutinnen, Ärzten, Beratungsstellen zu holen. Was die feststellen, lässt sich in dem Ordner von Sabine Teske nachlesen. Ein Jahr nach dem Polygrafentest fällt die Entscheidung: Der Vater darf das Kind vorerst nun doch nicht mehr sehen. An der Wand hängen Infoplakate für Missbrauchsopfer. Sie richten sich an Frauen, Kinder und an Männer, die zu Hause Gewalt erfahren. „Wir erleben hier immer wieder, was der Polygrafentest mit den Müttern macht: Sie sind hochverunsichert, weil das Verfahren so umstritten ist“, erzählt die Person. „Ich kann nicht verstehen, wieso man bei einem so sensiblen Vorwurf wie sexualisierter Missbrauch ein so umstrittenes Verfahren einsetzt.
Und Klein referiert für Lobbygruppen. Im Jahr 2016 trat sie auf einer Tagung von False Memory Deutschland auf. Der Verein will darüber aufklären, dass vermeintliche Missbrauchsopfer nicht immer wirkliche Missbrauchsopfer sind. Dass Erinnerungen an einen Missbrauch auch eingebildet oder eingeredet worden sein können. Im Jahr 2022 sprach Gisela Klein auf der Jahrestagung des Väteraufbruchs.
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