Wer in Beirut etwas braucht, der wendet sich nicht an den Staat. Sondern an die Parteien. Dieses Patronagesystem macht auch die Justiz machtlos, schreibt _jneumann.
Julia Neumann 28.1.2022, 15:57 Uhr
Die Verfassung macht Parteien zu Konfessionsträgern Parteien sind im Libanon durch Konfessionen definiert, der Proporz der Religionen in der Verfassung verankert. Der Staatspräsident muss maronitischer Christ sein, der Ministerpräsident sunnitischer Muslim, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim. Das Konstrukt sollte die friedliche Koexistenz erbringen, sichert aber den alten Warlords politischen Einfluss und lässt viel Raum für Korruption.
„Ich bin weit entfernt von der Politik“, sagt Mariana Fodoulian, „ich frage nur nach Gerechtigkeit für meine Schwester. Wer sie getötet hat, soll bestraft werden.“ Der Zusammenschluss der Familien der Explosionsopfer verlangt, dass die Verantwortlichen juristisch belangt werden. Bis vor Kurzem vertrat sie ein gemeinsamer Sprecher, Ibrahim Hoteit. Doch der erklärte plötzlich, er stehe hinter der Forderung der Hisbollah, Richter Tarek Bitar abzusetzen.
Weitere christlich-maronitische Parteien sind die rechtskonservativen Libanesischen Kräfte, angeführt von Samir Geagea, sowie die Kataeb. Deren Parteichef Samy Gemayel inszeniert sich zurzeit als Oppositioneller, da seine Partei nach den Protesten 2019 aus der Regierung ausgetreten ist. Klientilismus an jeder Ecke Im Alltag, ja bei jeder Kleinigkeit, steht der Klientelismus über dem gemeinsamem Staat. Wer etwas benötigt, sei es einen Job, Geld oder Lebensmittel, geht zum Zaim, dem politischen Führer. Wer mit Politikern verbandelt ist, bekommt mehr Strom oder Wasser. Wer sich mit den Parteien gut stellt, bekommt die Studiengebühren oder die Krankenhausrechnung erlassen.
Die Leute hätten erlebt, dass jede Partei zu der Misere beigetragen habe, sagt Aly Sleem. Er arbeitet als Geschäftsführer des libanesischen Verbandes für demokratische Wahlen . Während der Proteste forderten die Leute auch Neuwahlen. „Doch leider gab es keine neuen Wahlen. Wir hatten Covid und so viele andere Dinge, um die wir uns sorgen müssen. Die Dinge haben sich drastisch geändert.
Die Armen, sagt Aly Sleem, waren schon immer eine beliebte Zielgruppe. Vergünstigungen wie Tank- oder Essensgutscheine seien eine gängige Methode, sich um die eigene Klientel zu kümmern. Sleem nimmt an, dass internationale Hilfsgelder, die bereits überwiesen wurden, erst im März ausgegeben werden – kurz vor den Parlamentswahlen. „Die Kandidat*innen erbringen Dienstleistungen, um politische Loyalität zu erlangen.
Doch nicht alle Männer in Seif al-Dins Alter wenden sich vom Klientelsystem ab. Bei einer Rast im südlichen Mlita, in einem kleinen Restaurant mit Ausblick auf die Berge, serviert der Ladenbesitzer Brot mit einer Käse-Paprika-Mischung. Beiläufig erwähnt er, seine ganze Familie gehöre der Hisbollah an. Sie alle besäßen Waffen und seien bereit, für die Partei in den Krieg zu ziehen.
LADE-Geschäftsführer Aly Sleem kann verstehen, dass Leute sich weiterhin für die politischen Führungspersonen einsetzen. „Früher habe ich die Hisbollah unterstützt.“ Dabei sei er nicht einmal religiös. „Das war rein sektiererisch. Ich habe gesehen, dass Hisbollah mich verteidigt, als Person, die in einem schiitischen Umfeld aufgewachsen ist, in einem System, das seinen Bürger*innen keine Gerechtigkeit verschafft.
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