Russland greift die Ukraine an. Menschen fliehen, aufs Land oder ins Exil. Andere bleiben und kämpfen. Nichts ist mehr, wie es war. Fünf Tagebücher:
Schnell noch den letzten Zug nach Lviv erreichen: eine Familie auf den Gleisen des Bahnhofs von Kiew am 3. März Foto: ap/Vadim GhirdaSelim H. ist 17 Jahre alt und studierte vor dem Krieg Automatisierungstechnik in Kiew. Dort lebt er auch mit seiner Familie. Eigentlich kommt er von der Krim und ist Krimtatar. 2014 musste er wegen der Annexion der Halbinsel durch Russland mit seinen drei jüngeren Geschwistern, seiner Mutter, seinem Stiefvater und seiner Großmutter von dort fliehen.
Gestern noch verfolgten wir den ganzen Tag die Nachrichten und ich versuchte, Fake News zu widerlegen und Nachrichten von westlichen Sendern an Bekannte in Russland weiterzuleiten. Sonntag, 17.52 Uhr Den ganzen Tag war etwas zu tun. Es mussten weitere Vorbereitungen getroffen werden, denn wir werden hier wahrscheinlich eine ganze Weile im Keller verbringen. Wir haben den Keller freigeräumt und Matratzen nach unten gebracht. In Vasilki, östlich von Kiew, wo meine Großeltern väterlicherseits leben, ist ein Öldepot durch russisches Bombardement in Brand geraten.
Wir kochen Wasser ab und füllen es in Flaschen, um es aufzubewahren. Unsere Badewanne haben wir auch mit Wasser gefüllt, damit wir noch etwas zu trinken haben und uns waschen können, falls die städtischen Leitungen getroffen werden. Ich habe versucht, Bekannte in Russland über den Krieg zu informiere, ich habe auch Spenden für die Armee gesammelt. Und trotzdem fühlt sich das nicht genug an. Aber es gibt immer Hoffnung. Ich weiß, dass dieser Krieg enden wird. Dass der wahnsinnige, paranoide und illegitime Herrscher unseres östlichen Nachbarn wahrscheinlich sterben oder von seiner eigenen korrupten Elite gestürzt werden wird.
Eine Freundin von mir ist als Köchin zu den territorialen Verteidigungskräften gegangen. Seither hat sie sich nicht mehr gemeldet. Eine andere hat ihren Vater verloren, der der territorialen Verteidigung angehörte. Ein anderer Freund, der von der Armee eingezogen wurde, wartet ständig an einem Stützpunkt und wünscht sich, in den Kampf zu ziehen. Das ständige Ausharren belastet ihn.
Ich will nicht weg. Ich will nicht noch einmal von vorne anfangen, irgendwo weit weg von zu Hause. Wann wird das enden? Was? Was sagen die Nachrichten? Was zur Hölle? Die Wodkasäufer haben ein Feuer in einem Atomkraftwerk ausgelöst? Warum?Aber diese … diese Monster, sind wahnsinnig. Warum passiert das? Wann endet dieser Albtraum?Ljuba Danylenko – „Wir wollen keine Flüchtlinge sein“ Ljuba Danylenko, 46, Dolmetscherin und Historikerin, ist am 22. Februar mit ihrer Freundin Tanja Pastuschenko in die ukrainischen Karpaten geflohen. Danylenko hat zwei Kinder.
Tag 1 Hunderte Meldungen, Telefonate. Mit zitternden Händen kaufe ich eine der letzten Fahrkarten in die Westukraine für meine 22-jährige Tochter; sie ist in Kiew. Sie schafft es, kommt raus, mit zwei Katzen, braucht einen halben Tag vom linken auf das rechte Ufer des Dnjepr. Kaum Benzin in der Stadt. Staus, Schüsse, Luftalarm.
Aufatmen: Kiew steht. Ich denke an meine Mutter Heimat. Im wörtlichen Sinne. Aber auch an die Gedenkstättenstatue, das höchste Monument Kiews, das am Dniprohügel steht. Das ist mir schon immer aufgefallen, dass die Frau mit Schwert und Schild gegen Osten gerichtet ist. Nicht gegen Westen, obwohl sie dem Zweiten Weltkrieg gedenkt. Tanja und ich haben im dazugehörenden Museum gearbeitet.
Kurze Telefongespräche mit unseren Männern, sie sprechen nicht viel. Alles gut. Alle da. Alle kampfbereit. Tag 4 Wir grüßen uns nicht mehr mit Guten Morgen. Das bringt man nicht über die Lippen. Das Erste, was wir im Morgengrauen dann tun: Die Nachrichten checken, rausfinden, ob unser geliebtes Kiew noch steht. Ja, meint Tanja, von einer Niederlage habe sie nichts gelesen.
Heute ist Sonntag. Wir gehen zum Gottesdienst. Die Kirche ist voll. Der Priester sagt: „Nicht verfluchen, sondern beten um Gottesschutz.“ Gottesschutz für den Kampf, meint er, denn er zitiert auch unseren Nationaldichter Taras Schewtschenko: „Kämpft und ihr werdet siegen! Gott wird euch helfen!“ Unser Taras. Deine Worte.
Wir überlegen, weiterzuziehen. Wie schön ist unsere Ukraine. So ein riesiges Land erobern? Sehr unklug. Widerstand wird es immer geben. Eindringlinge, die hier in die Karpaten einfallen, müssen mit heftigem Widerstand rechnen. Selbst das Flüsslein heißt Opir – Widerstand. Die Erinnerungen an den Sowjetterror sind noch wach.
Heute beginnen die Sanktionen gegen Russland dort zu wirken. Schadenfreude? Hoffnung verfestigt sich und geht in den festen Glauben über, der fürchterlichen Vernichtung der Ukraine ein baldiges Ende zu setzen. Meine Freundinnen in Ushgorod umarmen uns nach der Ankunft. Da kommt meine Tochter. Ich drücke sie an mich und breche zum ersten Mal in Tränen aus.
Tag 7 Wir stehen auf und haben keine Ahnung, was für ein Wochentag ist. Wir rechnen in Kriegstagen, heute ist der siebte. Olha M. – „Der Krieg hat mich gelehrt, in kurzen Sätzen zu sprechen“ Olha M., 36, arbeitete bis vergangene Woche als Dozentin für Wissenschafts- und Technologiegeschichte an einer Universität in Kiew Am Morgen des 24. Februar wurde sie von Detonationen geweckt, überstürzt verließ sie ihre Wohnung. Kurze Zeit später saß sie in einem Zug nach Polen. Hinter der Grenze stieg sie in einen Bus nach Krakau, um von dort aus zu ihrem Freund nach Basel zu fliegen.
Ich telefonierte mit meinem Vater. Er lebt in Irpin, einem Vorort von Kiew, und will dort bleiben, um zu kämpfen. Er sei zu den „territorialen Verteidigungseinheiten“ gegangen, erzählte er, aber die hätten ihn mit 67 für zu alt befunden. Das ist schade. Ich wünschte, mein Vater hätte Waffen. Er ist ein eher friedlicher Mensch, eine kreative Seele, ich weiß, er würde die Waffen nicht leichtfertig einsetzen.
Auf dem Flug weinte ich viel. Ich versuchte, mich zu beruhigen: Der Schutzraum im Haus meiner Mutter befindet sich im Keller, sie muss nicht auf die Straße. Die, die noch da sind, kennen sich, und es gibt eine Toilette. In meiner Kindheit spielten wir bei Regen oft dort unten, bekritzelten die Wände. Es gab Sportgeräte und einen Klavierraum, sonst nur einige Holzbänke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute dort lange bleiben können.
Wir fuhren vom Flughafen aus direkt zur Demonstration. Es war voll für diese kleine und ruhige Stadt. Aber ein paar Slogans enttäuschten mich. So was wie „Kein Krieg in der Ukraine“ oder „Frieden in der Ukraine“. In der Ukraine herrscht ja bereits Krieg, und Frieden wird es sobald nicht geben.
Gestern Abend gingen sie und ihr Nachbar zu einem Schutzraum. Am Eingang kontrollierte jemand ihre Taschen. Als die Sicherheitsleute bei ihrem Nachbarn eine alte sowjetische Militärdienstkarte fanden, verdächtigten sie ihn als russischen Spion. Masha schaltete sich ein und wurde gleich mit verdächtigt. Die Sicherheitsleute forderten beide auf das Wort „palianytsia“ zu sagen, ein ukrainisches Wort, das Russen nicht richtig aussprechen können.
Ansonsten geht es mir in der Wohnung meines Partners besser. Er kümmert sich viel, hat sogar Buchweizen für mich gekocht, obwohl er den nicht mag. Ich habe das Gefühl, nicht wirklich anwesend zu sein. In normalen Zeiten würden wir uns umarmen, küssen, kuscheln, etwas Schönes für das Wochenende planen. Aber ich bin so sehr in Gedanken, dass ich diese emotionale Verbindung nicht so stark fühle wie sonst.
Trotzdem ist das eine Belastung für mich. Ich will nicht berühmt werden. Und ich kann auch nicht als Expertin für den Krieg in der Ukraine auftreten. Ich bin Expertin für die Geschichte der Fahrradmobilität und des russischen Nationalismus zwischen 1906 und 1912. Viele Journalisten haben gefragt, wie wir all das bewältigen können. Mein Vater ist übermäßig optimistisch, ich bleibe sehr aktiv und energiegeladen. Es ist nicht der richtige Moment, um traurig zu sein. Was könnte ich noch ausrichten, wenn ich traurig wäre?
In meinem Kopf schwirrten die Gedanken. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ein umfassender Krieg aussah. Wir kannten Krieg nur aus Filmen, aus Büchern, es war kaum zu glauben, dass uns das nun passierte. Tag 3 Ich habe immer noch nicht richtig geschlafen. Die Familie meines Freundes kam erst fünf Stunden nach der vereinbarten Zeit am Stadtrand an. Der Stau ist endlos. Autos, Autos, Autos… Aus dem ganzen Land. Die Polizei kontrolliert alle, es dauert ewig. Noch immer hat sich das Militäramt nicht gemeldet.
Später wurden wir ausgerüstet. Es waren viele Soldaten, die Prozedur zog sich, aber ich langweilte mich nicht. Die Stimmung wird heiter, wenn man das lächelnde Gesicht eines Bruders in einer brandneuen Uniform und Schuhen mit einer hellen ukrainischen Flagge auf den Winkeln sieht. Ich habe meine Ausrüstung als einer der letzten bekommen.
Alma L. hat beschlossen, in der Ukraine zu bleiben. Nirgendwo sei es besser als zu Hause Foto: privat Ich habe die Fenster zugeklebt, damit die Glassplitter im Falle einer Explosion zusammengehalten werden. Es gab die Anweisung, das Licht um 23 Uhr auszuschalten. Ich stelle mir den Wecker auf 2 Uhr, denn es heißt, dass es dann Luftangriffe geben könnte.
Ich versuche auch geflüchteten Menschen eine Unterkunft zu vermitteln, aber es gibt so viele Anfragen. Es ist sehr hektisch, ich bin erschöpft und von Informationen überwältigt. Aber die Wut, die ich spüre, gibt mir grenzenlose Energie. Ich kann mich kaum zurückhalten, ich laufe ständig auf und ab. Es ist plötzlich so klar, was richtig und falsch ist und was ich tun muss. Jede Minute ist kostbar.
Sonntag Am Morgen gab es keine Sirenen, also schlief ich, bis mich wieder Leute wegen Lebensmittelspenden anriefen. Sonntage scheinen auch in Kriegszeiten immer noch Sonntage zu sein. Es ist ruhiger und die Freiwilligenküche ist geschlossen. Wir versuchen, die Logistik für die humanitäre Hilfe aufzubauen. Ein Freund in Polen wird einige Ukrainer an der Grenze abholen. Eine Freundin aus Rumänien „bombardiert“ mich mit Nachrichten zu Unterkunftsmöglichkeiten.
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